Wenn junge Stimmen Geschichten schreiben: Cansu Gökkaya
Wir am BG/BRG Reutte sind besonders stolz auf unsere Schülerin Cansu Gökkaya, die seit ihrem sechsten Lebensjahr Gedichte und Geschichten schreibt – auf Deutsch und Englisch. Viele ihrer Texte wurden bereits veröffentlicht, darunter ihre neueste Weihnachtsgeschichte „Santa in Not“ im Sammelband Winterwaldträume. Geschichten von der verschneiten Jahreszeit. Siehe dazu das Interview auf reeins.
Cansus beeindruckende Leistung zeigt, wie wichtig es ist, junge Talente zu fördern – und genau das ist uns am BG/BRG Reutte ein besonderes Anliegen: Wir unterstützen unsere Schülerinnen und Schüler, ihre Begabungen zu entdecken, zu entwickeln und öffentlich zu präsentieren. Ihr kreatives Engagement inspiriert Mitschülerinnen und Mitschüler und macht deutlich, welche Potenziale in jungen Menschen stecken.
Die Anthologie Winterwaldträume ist über die Cinnamon Society erhältlich, der Erlös geht zu 100 % an das Kinder- und Jugendhaus Runkel in Deutschland.
Besondere Anerkennung erhielt Cansu, als sie für ihre Texte ausgezeichnet wurde:
Unter eurem Himmel darf ich sterben, aber nicht leben
Ich weiß nicht, wie viele Himmelsrichtungen man durchqueren muss, um jemand zu sein. Ich weiß nur, dass ich fünf Länder hinter mir ließ und in jedem weniger wurde.
Schon früh habe ich gelernt, dass manche Himmelsrichtungen für mich nicht gedacht sind.
Mein Name ist Amina. Ich bin sechzehn. Oder siebzehn. Das weiß ich nicht genau. Mein Geburtstag ist irgendwo in einem brennenden Haus verloren gegangen. Ich erinnere mich nur, dass es regnete, als wir gingen – Regen, der auf Sand fiel und zu Schlamm wurde. Ich trug eine Jeansjacke, die mir meine Schwester gegeben hatte, kurz bevor sie nicht mehr zurückkam.
Ich erinnere mich auch an den Geruch von nasser Asche. An das Knacken von Schuhsohlen auf verbrannter Erde. An meine Mutter, wie sie mit einer Decke in der Hand versuchte, meine kleine Schwester zu schützen. Und an meinen Vater, wie er in die Flammen zurücklief, weil er glaubte, noch etwas retten zu können. Auch er kam nie mehr zurück.
Das war das erste Land, das ich verlor. Das erste Ich.
Im zweiten Land war ich ein Flüchtling.
Im dritten eine Nummer.
Im vierten war ich unsichtbar.
Im fünften ein Fehler in einer Statistik.
In einem dieser Länder lernte ich das Wort "Ankommen". Aber es fühlte sich nie nach mir an. Ankommen bedeutete für die anderen, dass ich aufgehört hatte zu fliehen. Für mich bedeutete es nur, dass ich stiller wurde. Ständig sagten sie zu mir, ich sei angekommen. Aber ich frage mich: Wenn man jeden Tag das Gefühl hat, zu stören, ist man dann angekommen? Wenn man schweigt, um nicht falsch zu sprechen, lebt man dann?
Ich lächelte höflich, wenn man mich fragte, wo ich herkam, und sagte etwas, das wie Wahrheit klang. Denn die Wahrheit machte Menschen nervös. Und ich hatte gelernt: Wer dazugehören will, sollte nicht zu viel erzählen.
Aber nachts träumte ich vom Regen auf Sand. Vom Geruch meiner Mutter. Vom Klang unseres alten Radios, das nie ganz funktionierte.
Und manchmal, wenn ich ganz allein war, sprach ich mit meinem Vater. Nicht laut. Nur in Gedanken. Ich fragte ihn, ob ich noch seine Tochter sei, hier, unter diesem fremden Himmel.
Und jedes Mal, wenn der Wind durch die Blätter fuhr oder ein Schatten sich auf meine Hand legte, glaubte ich, dass er ja sagte.
Tagsüber lernte ich, zu verschwinden, ohne zu gehen. Ich saß in Schulbänken, die sich anfühlten wie Wartezimmer.
Die anderen Mädchen sprachen schnell, warfen Wörter wie Bälle hin und her. Ich fing sie nicht. Ich lächelte, als hätte ich sie verstanden, und wartete auf den Moment, an dem ich nicht mehr auffiel. Aber ich verstand, wenn sie „Wirtschaftsflüchtling“ flüsterten, wenn ich in der Pause mein Brot auspackte. Ich hörte, wenn sie sagten, ich solle „zurückgehen, wo ich herkomme“, als wäre da noch etwas, wohin ich zurückgehen könnte.
In der Schule nannte man mich „fleißig“. Ich lächlte dann. Aber mein Lächeln hatte Ecken wie Glasscherben. Niemand fragte, was ich dachte. Nur, wie ich mich integrierte. Integration hieß: Unsichtbar werden. Leise sein. Nicht fordern. Vor allem nicht träumen.
Ich wollte Schriftstellerin werden. In meiner Sprache schrieb ich Gedichte über Mädchen, die gegen Väter rebellieren, über Liebe, die keine Schande ist, und über Freiheit, die kein Verbrechen ist. Hier schreibe ich Hausaufgaben. Sachlich. Unauffällig. Als wäre Sprache keine Waffe, sondern eine Pflicht.
Einmal sagte ich im Unterricht, dass Mädchen in meinem Land oft mit dreizehn verheiratet werden. Die Lehrerin sagte: „Das ist eure Kultur.“ Ich sagte nichts. Ich hätte sagen sollen: Nein. Das ist das, wogegen ich floh. Aber sie hörte eh nicht zu.
Ich bin nicht geflohen, weil ich anders leben wollte. Ich bin geflohen, weil ich überhaupt leben wollte.
Hier unter eurem Himmel darf ich leben, sagen sie. Aber wenn Leben bedeutet, dass ich mich jeden Tag kleiner machen muss, als ich bin, ist das dann Leben?
Mein Asylantrag wurde abgelehnt. „Kein individueller Verfolgungsgrund.“ Ich habe geweint, bis ich keine Tränen mehr hatte. Die Betreuerin sagte, ich solle stark bleiben. Ich bin sechzehn. Ich bin nicht stark. Ich bin müde.
Sie wollen mich abschieben. Ich soll in das Land zurück, in dem Frauen Eigentum sind, und Mädchen Brautpreis. In dem ein Nein ein Witz ist und ein Schweigen ein Ja. In dem mein Körper nicht mir gehört. Ich soll zurück in die Hände, vor denen ich floh.
Neulich habe ich mich selbst gefragt: Bin ich ein Mensch für euch, oder nur ein Fall? Ein Aktenzeichen? Eine Bedrohung, die atmet?
Ich habe angefangen, wieder zu schreiben. Heimlich, nachts. Es gibt keine Fenster in meinem Zimmer, nur ein Oberlicht. Manchmal schaue ich in den Himmel und frage mich, ob er überall gleich aussieht. Ich glaube nicht.
Der Himmel hier ist sauber. Geordnet. Grau.
In meinem Land war er rot. Voller Staub und Hitze. Und trotzdem: Er war der meine.
Hier bin ich eine Erinnerung daran, dass eure Freiheit Grenzen hat. Dass eure Menschlichkeit in Paragraphen erstickt.
Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod. Ich habe Angst vor einem Leben, das sich anfühlt wie Sterben in Zeitlupe.
Ich träume jede Nacht von einem Ort, wo ich einfach ein Mädchen sein darf. Nicht eine Geflüchtete. Nicht eine Fremde. Nicht eine Last.
Nur ein Mädchen.
Vielleicht ist das der größte Wunsch überhaupt: Leben dürfen, nicht nur überleben. Lieben dürfen, ohne Angst. Lernen dürfen, ohne Scham. Sein dürfen, ohne ständig zu danken.
Wenn ihr das nicht geben könnt, dann sagt es. Aber sagt nicht, ich sei frei.
Unter eurem Himmel darf ich vielleicht sterben.
Aber leben, das darf ich nicht.